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30 Jahre Leben

Wenn wir Kinder sind, ist die längste Zeitspanne, die wir uns vorstellen können, ein Jahr. 30 Jahre später sieht das anders aus. Da beträgt die längste Zeitspanne, die wir uns vorstellen können, 30 Jahre.

30 Jahre Leben. 30 Jahre, in denen wir nicht gestorben sind. Jeden Tag überlebt – bis jetzt. 24 Stunden über 30 Jahre lang, die mit Leben gefüllt werden wollten. Und wurden. Mal mehr, und mal weniger. Lauter und leiser.

Die Kindheit schien so unendlich lang, niemals endend. Sechs Jahre, sieben Jahre… das Leben zwischen Grundschule, Verstecken spielen und abends Cartoons sehen – es schien einfach nicht aufzuhören. Dann kam die Jugend, die ebenfalls keine Zeit zu kennen schien. So viele erste Male, die sich in unseren Köpfen eingebrannt haben und den Boden für so viele weitere Male geebnet haben. Dinge, die uns so wichtig waren – über die uns heute nur noch ein müdes Lächeln entweicht. Maximal.

Wege, die mit so vielen anderen beschritten wurden, weil doch irgendwie alle das Gleiche machen mussten, doch die Pfade heute so weit auseinander gehen. Wir hätten es uns damals nicht vorstellen können.

Mauern, die wir so hoch gezogen haben, um sie dann doch von viel zu blauen Augen wieder einreißen zu lassen und Schnäpse, die wir seitdem nicht mehr trinken können. Wege, die wir eingeschlagen haben, um dann doch wieder umzukehren, um noch ein bisschen am Meer sitzen zu bleiben. Sternenhimmel, die wissend über allem standen. Verabschiedungen, die unsere Herzen in kleines Konfetti gerissen haben, nur damit wir es bei der nächsten Begrüßung schmeißen konnten.

Die ersten zehn. Dann die zweiten zehn. Und nun die dritten zehn Jahre. In jeder Dekade ist so entsetzlich viel passiert. Und doch denken wir, es ändert sich ja doch nie etwas. Die Konstante sind wir, die Zeit die Variabel.

Doch eigentlich sind wir keine Konstante. Die Variabel hinterlässt auf der Konstanten ihre Spuren, mal ganz leicht im Sand, mal erbarmungslos im Beton. Und so bleibt nur ein kleiner Teil der Konstanten stets der gleiche, alles andere verändert sich. Ständig.

30 Jahre. Es hört sich so furchtbar lang an. Und es ist so furchtbar lang, bedenkt man, welche Menschen in diesem Zeitraum alle erst ins, und dann wieder aus dem Leben gestolpert sind, wie viel Lachen auf dem Gesicht war, und wie viel Weinen, wie viele Fragezeichen, die irgendwann durch das Ausrufezeichen abgelöst wurden. Wie viele Momente sprachlos gemacht haben und wie viele für immer blieben und wie viele einfach vergessen wurden. Wie viele Orte betreten wurden, nur um zu wissen, dass man irgendwann wieder zurückkehren wird. Wie viele Wahrheiten entdeckt wurden, nur um festzustellen, dass die Lüge manchmal doch angenehmer war.

30 Jahre. Immer auf der Jagd. Nach dem Sinn. Nach dem Glück. Nach dem Ankommen. Doch auch nach 30 Jahren steht kein Einmachglas mit dem Sinn auf dem Regal. Und auch das Glück kann doch nie konserviert werden. Das Ankommen? Wo denn überhaupt? Sind doch auch der Sinn, das Glück und das Ankommen nur Variablen auf dem langen Zeitstrahl, der gerade die Markierung der 30 erreicht hat.

Wie viele Vorstellungen und Pläne und Wünsche in den 30 Jahren geboren und wieder begraben wurden. Eine Vorstellung von dem Leben mit 30 – vielleicht. Doch immer eine andere. Der Status Quo ist mit Sicherheit anders als gedacht mit 10 Jahren. Oder mit 20 Jahren. Vielleicht sogar anders als mit 25 Jahren. Ist das ein Scheitern oder ein Gewinn? Würde eine Bewertung etwas ändern? Nein. Denn, wenn es in den 30 Jahren eine Konstante gab, dann die, dass alles ist, wie es ist. Mit Bewertung, oder ohne.

Die Gegenwart ist immer jetzt. Doch jetzt schon nicht mehr. Jetzt ist sie schon vergangen. Die Zukunft ist gleich. Nein jetzt. Das war sie. Die Zeit rast. Nach 30 Jahren so schnell, wie noch nie zuvor. Ich bin mir sicher, dass sie nur noch mehr Fahrt aufnehmen wird und meine Augen von dem Fahrtwind ein bisschen anfangen zu tränen. Aber dann mache ich sie einfach zu.

Ich drehe den Deckel des Einwegglases auf. Der Sinn muss nach 30 Jahren endlich ins Regal. Auf einen kleinen Zettel schreibe ich: „Vergänglichkeit“. Denn das ist die Quintessenz aus 30 Jahren – eine Versöhnung mit der Vergänglichkeit. Wenn wir das tun, stellen wir fest, welche Last von uns fällt, wenn wir sie endlich schätzen. Aufhören, sie auf Biegen und Brechen von uns wegstoßen zu wollen. Es ist vergänglich – unsere Kindheit, unsere Jugend und auch unsere 30er – unser Leben.

Auch der Sinn entzieht sich der Vergänglichkeit nicht. Morgen wird er vielleicht ein ganz anderer sein.

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