Boxhandschuhe auf dem Boden
Allgemein

Im Boxring mit dem eigenen Kopf – Wer geht hier K.O.?

Unsere Feinde sind uns so manches Mal näher als wir denken. Wenn es ganz schlecht läuft, können wir sogar, so sehr wir es auch versuchen mögen, überhaupt keinen Raum zwischen uns und ihnen schaffen – schlichtweg, weil sie in uns selbst wohnen.

 

Der größte Feind – der eigene Kopf. Und was ich eigentlich mit Kopf meine, weiß ich selbst nicht so genau. Das Gehirn, den Geist? Ist auch vollkommen unerheblich. Fakt ist, dass ich mich selbst immer wieder im Boxring finde. Und – sobald ich diesen Ring betrete, kann ich die Taktik meines Gegners nicht mehr durchschauen. Ich sehe nur noch seine Angriffe und versuche, so gut, wie es wenigsten geht, auszuweichen. Doch dann für den Bruchteil einer Sekunde einmal kurz nicht aufgepasst und die Faust trifft mich. Boom. Boden. Das K.O.?

 

Ich bin ehrlich: Ich habe überhaupt keine Ahnung vom Boxen. Deshalb weiß ich auch nicht, wie lange eigentlich gezählt wird, bis das endgültige K.O. verkündet wird und der Sieger erschöpft, aber dennoch breit strahlend, seinen Arm nach oben hält.

 

Kurz vor dem K.O.. Und trotzdem ist es keine Option aufzugeben. Das zeigst du mir nun auf äußerst beeindruckende Art und Weise.

 

Der Feind in meinem Kopf wittert Gefahr. Eigentlich überall. Er wittert Verrat. Betrug. Er schmeißt mit ständigen Warnungen um sich, die in einigen Moment so laut werden, dass der Versuch, sie zu überhören oder zumindest mit einem fröhlichen Summen zu übertönen, von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist.

 

Ständig auf der Hut sein. Bloß keinen Hinweis übersehen. Auch, wenn da gar keiner ist. Mein Feind erzählt mir Geschichten, die einfach zu stimmig sind. Zu logisch. Zu sehr dem entsprechen, was ich vielleicht eigentlich auch schon längst gedacht hab. Da ist sie die Bestätigung. Auch, wenn sie doch eigentlich gar nicht da ist.

 

Ständiges Misstrauen. Scheint zu gut, um wahr zu sein. Es ist daher nur wahrscheinlich, dass bald etwas passiert, dass die Worte und Warnungen meines Feindes bestätigt. Schließlich ist er mir so nah – wie könnte er jemals lügen? Dabei würde doch eigentlich er mein Misstrauen verdienen. Und nicht du.

 

In den akuten Momenten im Boxring sehe ich nichts mehr um mich herum. Das zeichnet einen guten Boxer schließlich aus. Fokussiert auf den Feind. Was ist sein nächster Schritt? Ich muss ihm zuvor kommen. Doch eigentlich weiß ich, dass ich diesen Kampf niemals hier im Ring gewinnen kann.

 

Der Feind ist immer nah. Zu weit geht er nie weg. Vielleicht geht er in den guten Momenten manchmal Brötchen holen, vielleicht auch am ganz anderen Ende der Stadt. Aber er kommt zurück. Auch, wenn ich mir jedes Mal schwöre, nun die Gunst der Stunde zu nutzen und das Schloss auszutauschen. Er würde ohnehin einen anderen Weg hinein finden. Notfalls mit einem Brecheisen.

 

Im Ring flüstert er mir Dinge von Verlusten und von Lügen vor. Von dem Schlechten in den Menschen. Und in mir. Meine Deckung lässt sofort nach. Er flüstert, dass es einfach nur naiv wäre, zu vertrauen. Die Vergangenheit hat doch gezeigt, dass kurz darauf die harte Linke zuschlägt.

 

Das vermeintlich Offensichtliche nicht zu sehen. Naiv zu vertrauen. Zu glauben. Dafür belächelt werden, nicht zu wissen, dass die Welt nicht gut ist. Bei der Vorstellung verstößt mein Gegner im Ring sogar gegen die Regeln und tritt mir mit voller Kraft in den Bauch. Nein.

 

Dieses Risiko einzugehen? Niemals. Lieber die Deckung oben halten und in jedem Moment zum Gegenschlag bereit sein.

 

Doch was folgt daraus? Dass du immer nur einen Teil meines Gesicht sehen wirst, weil das Gesamtbild stets von den beiden großen Boxhandschuhen verdeckt wird?  Dass ich sie immer oben halte, immer wachsam bin, um niemals zu riskieren, K.O. zu gehen?

 

Das ist sehr anstrengend. Auch mit einer überaus eindrucksvollen Kondition – niemand kann durchgehend im Boxring stehen. Nicht ich und auch nicht mein Feind. Ruht er sich gerade aus, kann ich zumindest in Umrissen erkennen, was außerhalb des Rings vor sich geht. Dass da jemand steht, den überhaupt nicht interessiert, ob ich gewinne oder verliere.

 

Und sobald ich dich da stehen sehe, kann ich endlich für einen Moment durchatmen. Lasse ich dann meine Deckung sinken, kommt in mir ein Gefühl auf, das so fremd scheint. Ist das tatsächlich Sicherheit?

 

Du schaffst es sogar mitten im Kampf in den Ring zu springen. Zwischen den Feind und mich. Du siehst, wie erschöpft ich bin und erklärst mir, dass ich diesen Kampf trotzdem gewinnen kann. Sogar, dass ich vielleicht gar nicht erst in den Ring steigen muss.

 

Was, wenn ich einfach verschwinden würde und meinen Feind den Ring überlasse? Natürlich besteht das Risiko, disqualifiziert zu werden. Er wird mich als schwach ansehen. Wird mich für meine Naivität belächeln. Wird predigen, dass es sich nicht lohnt, zu vertrauen. Dass die größte Gefahr darin besteht, die Deckung herunter zu lassen.

 

Doch ist das wirklich so? Oder besteht die viel größere Gefahr vielleicht darin, durch all das Kämpfen und Schlagen und Wegstoßen das wirklich Wesentliche zu verpassen? Lohnt es sich vielleicht, All-In zu gehen und dabei die Boxhandschuhe an den Nagel zu hängen – sodass der Feind im Ring irgendwann einfach alleine steht und gelangweilt aufgibt?

 

Und, wenn die Faust dann doch einmal treffen sollte, gehen wir K.O.. Aber wir stehen auch irgendwann wieder auf. Das Knockout der ständigen, unbeschreiblichen Anstrengung vorzuziehen, scheint jedoch die einzig wirklich logische Schlussfolgerung zu sein.

 

Und das Beste ist: Wegen dir möchte ich diese sogar nicht nur in Betracht ziehen, sondern mit neongelbem Textmarker zu unterstreichen. Sie dem Feind mit der Post schicken. Per Einschreiben.

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