Lichtzeichen mit dem Wort Neverland
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Die Illusion von Neverland – Auf der Flucht vor sich selbst

Die Illusion von Neverland – Auf der Flucht vor sich selbst

 

Nicht nur den leidenschaftlichsten Peter Pan-Fans wird das sagenumwobene Neverland ein Begriff sein. Ein Land, in dem niemand erwachsen werden muss. Spaß von morgens bis abends. Keine wirklichen Verpflichtungen, leben, wie in der Kindheit eben. Alle sind immer glücklich in Neverland – denn welcher Grund spräche auch dagegen?

 

Ich habe etwas mehr als ein Jahr in Neverland verbracht. Wie das möglich ist, wenn Neverland doch eigentlich nur eine Erfindung von Disney ist? Naja, irgendwie gibt es Neverland doch. Eine kleine Insel in Südostasien. Ja, das ist Neverland. Dennoch unterscheidet es sich zumindest auf den zweiten Blick doch ein wenig von der Illusion, welche die Peter Pan-Macher in unseren Köpfen verankert haben.

 

Im echten Neverland leben durchaus Erwachsene. Zumindest äußerlich. Innerlich sind tatsächlich alle noch Kind. In der Überzahl sind hier jedoch nicht die unbeschwerten, glücklichen Kinder, die über die grüne Wiese – beziehungsweise den Strand – rennen und dabei lauthals lachen. Hier sind die verletzen Kinder die Stars von Neverland.

 

Die Gegebenheiten in Neverland sind zweifelsfrei paradiesisch. Türkisblaues Wasser, zahlreiche feine, weiße Sandstrände, Strandcafés, unheimliche gute Restaurants und coole Bars wohin das Auge reicht. Die Lebenshaltungskosten im Vergleich zu den Heimatländern unglaublich niedrig. Das Leben wird hier augenscheinlich leicht genommen. Schnell auf den Scooter aufgesprungen, selbstverständlich ohne Helm, denn – was soll schon schlimmes in Neverland passieren? Wochentage haben keinerlei Bedeutung, denn hier ist jeden Tag Wochenende. Genauer gesagt Samstagabend und das rund um die Uhr, sieben Tage die Woche.

 

Klingt das verlockend? Erst einmal schon. Bis genug Zeit vergangenen ist, um hinter die Spaß-Kulisse von Neverland zu blicken. Was dann zu Tage gefördert wird, ist alles anderes als paradiesisch. Auch, wenn jeder hier die beste Zeit seines Lebens zu haben scheint – so trügt dieser Schein doch beachtlich.

 

Hinter den fröhlichen Gesichtern, die sich Abend für Abend in den entsprechenden Bars versammeln oder sich zum Sunset in den auserwählten Etablissements einfinden, stecken verletzte Kinder, die allesamt nur aus einem Grund hier sind: Endlich das Glück zu finden.

 

Es scheint ja auch zu einfach. Am Heimatort nehmen die Probleme überhand. Eine schreckliche Kindheit, ein nerviger Job, Geldsorgen, die gescheiterte Beziehung, die zu tiefe Narben hinterlassen hat. Der fehlende familiäre Rückhalt, die falschen Freunde, das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Flucht oder Kampf? Die Neverland-Residenten haben sich für die Flucht entschieden.

 

Schließlich muss sich irgendwo auf der Erde das Glück verstecken. Die Wahrscheinlichkeit scheint dafür auf einer kleinen Insel in einem tropischen Paradies überaus hoch. Doch was passiert, wenn dann nach einiger Zeit festgestellt wird, dass zwar aus der Heimat, jedoch niemals vor sich selbst geflüchtet werden kann?

 

Sich selbst hat man stets mit im Gepäck, egal, wohin die Reise auch führen mag. Und oft fällt dieses Gepäck so schwer aus, dass es kaum noch angehoben werden kann. So wird es lieblos über den Asphalt geschliffen, bis es irgendwann vollkommen auseinanderbricht.

 

Zum Reparieren bietet Neverland dann allerhand. Allen voran Alkohol. Daneben noch ein wenig anderweitiger Betäubungsmittel, ob Kokain oder Gras, zumindest jedoch ein wenig Ritalin, welches ganz unkompliziert am Tresen der zahlreichen Apotheken gekauft werden kann.

 

Ist dieses Equipment erst einmal besorgt, steht dem Spaß, den Neverland verspricht, nichts mehr im Wege. Dann kann zwei Tage durchgefeiert werden, dann wird noch einmal ein extra Kilogramm Erde auf die tief vergrabenen Probleme geworfen und das, wonach die ganze Zeit gesucht wurde, ist endlich zum Greifen nahe: Das Glück.

 

Doch wird danach gegriffen, muss leider festgestellt werden, dass es sich nicht halten lässt. Die Hand gleitet einfach durch das Glück hindurch und es verpufft zu Rauch. Festgestellt wird dies spätestens, wenn die Wirkung des Neverland-Equipments nach ein paar Stunden – oder auch Tagen – nachlässt.

 

Mit dem Nachlassen der Wirkung kommt jedoch noch etwas anderes, nämlich das Bewusstwerden darüber, dass dieses Neverland eine Farce ist. Doch diese unangenehme Wahrheit laut aussprechen? Das tun hier nur die Wenigsten. Vielmehr muss schnellstmöglich versucht werden, diese Wahrheit mit all dem weiteren Ballast und den Problemen, die oft bereits in frühster Kindheit begonnen haben, noch ein wenig tiefer zu vergraben.

 

Verletzte Kinder in Körper von Erwachsenen. Nicht 18-jährigen Erwachsenen, sondern zum Großteil spreche ich von Menschen im Alter von 35+, die lediglich das Leben eines 18-jährigen führen und dabei immer wieder mit der quälenden Frage konfrontiert werden, warum sie dabei einfach nicht das Glück der 18-jährigen Touristen, die höchstens fünf Tage in Neverland zu Besuch sind, empfinden können.

 

Doch wie kann es eigentlich sein, dass diese Menschen hier in so großer Anzahl vertreten sind? In den Reiseführern wird die kleine Insel schließlich kaum als Zufluchtsort für verlorene Seelen angepriesen.

 

Meine Antwort ist selbstverständlich rein subjektiv und hat keinerlei Anspruch auf die absolute Wahrheit. Ein Erklärungsversuch besteht darin, dass hier sehr viele Menschen zusammenkommen, die in ihrer Heimat vergeblich versucht haben, ein zufriedenes, ausgeglichenes und glückliches Leben aufzubauen. Daraus sind nicht selten auch handfeste Probleme mit der mentalen Gesundheit gewachsen, denen jedoch niemals die nötige Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Vielmehr wurde vor ihnen geflüchtet – und zwar ins Paradies. Die Vorstellung, wieder in die Heimat zurückzukehren, wo sich mit den tiefliegenden Problemen beschäftigt werden müsste, ist kaum auszuhalten.

 

Deshalb bleibt man hier. Und findet oberflächlich betrachtet sogar das, wonach gesucht wird: Die Bestätigung und den Ego-Push durch unbedeutenden Sex, das gestärkte Selbstbewusstsein durch den Alkohol und das Vergessen der Vergangenheit durch die weiteren entsprechenden Betäubungsmittel. So besteht niemals ein Anlass dafür, sich mit dem echten eigenen Ich auseinanderzusetzen, denn hier ist es schließlich so lächerlich einfach, vorzugeben, jemand ganz anderes zu sein. Vielleicht der begehrte Tauchlehrer, der coole Barmann oder der erfolgreiche Restaurantbesitzer.

 

Zuhause wäre so etwas kaum möglich, schließlich lauert dort an jeder Ecke die Bedrohung, dass die eigenen Probleme doch den Weg an die Oberfläche finden oder von nahestehenden Menschen adressiert werden. Zu wenig Ablenkung, zu viel Realität. Vielleicht hilft es auch, dass hier kaum ein Appartement über einen einwandfreien Spiegel verfügt.

 

Einem anderen Menschen wirklich nah kommen und das eigene Ich, nicht mit den vorgegeben Stärken, sondern den seit langer Zeit begrabenen Schwächen, offenbaren, das macht man hier in Neverland nicht. Manchmal besteht zwar durchaus ein gewisses Risiko , dass es dazu kommt, wenn die Sehnsucht nach Nähe und das rein menschliche Bedürfnis einer echten Bindung überhand zu nehmen droht – allerdings stehen dann auch schnell wieder die gewohnten Abwehr- und Verdrängungsmechanismen zur Verfügung, um die Gefahr zu bannen. Ohne Rücksicht auf Verluste beziehungsweise andere Menschen.

 

Und was war für mich der Grund, soviel Zeit in Neverland zu verbringen? Wie konnte dieser Ort für mich zumindest zeitweise zu einem „Zuhause“ werden? Nun ja. Auf eine gewisse Art und Weise bin ich mit Sicherheit auch vor etwas geflohen. Jedoch kann ich ehrlich sagen: Nicht vor mir selbst. Vielmehr hat mich die Zeit in Neverland wesentlich näher zu mir selbst gebracht. Für mich war es vielleicht eher die Flucht aus dem durchschnittlichen Leben. Die Angst, etwas zu verpassen, das da in der Welt auf mich wartet. Und das kalte Wetter. Und das Gefühl, Leute kennenlernen zu wollen, die das alles auch nicht möchten und vielleicht ein ähnlicheres Mindset haben.

 

In mein Gepäck habe ich allerdings nicht nur mich selbst gepackt, sondern auch wichtige äußerst wichtige Werkzeuge, wie etwa die Selbstreflektion. Die zahlreichen Erfahrungen, die ich mit den Ureinwohnern von Neverland gemacht habe, waren zum Teil durchaus schmerzhaft. Schließlich wissen wir: Hurt people hurt people. Sie haben viele Dinge Mechanismen in mir getriggert, die mir vorher vielleicht überhaupt nicht bewusst waren. Nun sind sie es jedoch, sodass ich an ihnen arbeiten kann. Das ist durchaus ein Geschenk. Dies ist einer der Gründe, weshalb ich die Zeit, die ich in Neverland verbracht habe, nicht bereue. Der Abenteuerspielplatz für erwachsene Kinder hat zahlreiche wichtige Lektionen für mich bereitgehalten. Und mir vor allem gezeigt, dass ich auch hier nicht hineinpasse – und das macht mich in diesem Fall wirklich glücklich.

 

Ganz in der Nähe von Neverland liegt im Übrigen der Handlungsort von dem Leonardo DiCaprio Klassiker „The Beach“. Oft habe ich mich gefragt, ob die durchaus dramatische Message, welche hinter der Handlung des Films steckt, rein zufällig so unfassbar viele Ähnlichkeiten zu Neverland aufweist. Wer weiß.

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