Gefühlsverantwortung
Stille. Stille, die so laut ist, dass ich mir mit beiden Händen die Ohren zu halten will. Ganz feste. Am besten für immer. Denn diese Stille macht, dass mein Kopf platzt. Aber vielleicht wäre auch das aktuell nicht das Schlechteste.
Wir alle wurden in unserem Leben schon einmal verletzt, das lässt sich einfach nicht vermeiden – egal, wie gut wir versuchen, auf uns und unser Herz aufzupassen. Wir können für unser Herz zur übervorsichtigen Helikopter-Mutti mutieren, allerdings werden wir dadurch trotzdem nicht verhindern können, dass es diese kleinen, unbeobachteten Momente gibt, in denen wir nicht aufpassen. Aua, das tat weh.
Niemand von uns will Schmerz spüren. Weder körperlich, noch im Herz. Aber, während wir so durch unser Leben schlendern, wird es immer die eine oder andere Ecke geben, an der wir uns dann doch stoßen – und den ein oder anderen Menschen, bei dem wir uns geirrt haben.
Menschenkenntnis. Ich glaube langsam, das hat sich nur irgendwer ausgedacht. Haben wir in uns wirklich eine gewisse Intuition, die uns dabei hilft, ein Bild von einem Menschen zu malen, obwohl wir bis hier nur ein paar schwammige Umrisse gesehen haben? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht gibt es sie, aber sie versagt in manchen Momenten einfach so gnadenlos.
Ich habe das Gute gesehen. Und alle Warnzeichen ignoriert. Weil ich die Dinge, die ich nicht mehr gesehen habe, so gerne weiterhin sehen wollte. Und weil ich mein eigenes Herz als Maßstab genommen habe. Deins konnte doch nicht so viel schlechter sein?
Wir können uns also kaum davor schützen, dass uns weh getan wird. Auch, wenn wir uns mit einer noch so dicken Schutzuniform ausstatten. Irgendwo ist immer eine freiliegende Stelle. Doch wenn wir schon uns selbst nicht vor schmerzhaften Verletzungen schützen können, dann vielleicht die anderen.
Menschen, die verletzt wurden, entwickeln manchmal eine Betriebsblindheit dafür, dass sie ihren eigenen Schmerz an andere Menschen weitergeben. Und das ist nicht fair. Die Menschen laufen wie eine Abrissbirne durch die Welt und reißen die Mauern von Menschen ein, für deren Bau sie monate- oder vielleicht sogar jahrelang gebraucht haben. Mauern, von denen sie jeden kleinen Stein sorgsam auf den nächsten gestellt haben – bis sie endlich wieder atmen konnten. Und dann kommt ein verletzter Mensch und reißt sie ein. Bis auf das Fundament. Und selbst das bekommt Risse.
Es gibt eine Gefühlsverantwortung. Niemand hat das Recht, andere Menschen bewusst zu verletzen. Nein – manchmal sind wir einfach Hornochsen und unser Tunnelblick führt dazu, dass wir gar nicht erkennen, welche Gefühle wir anderen mit unserem unüberlegten Verhalten bereiten.
Doch diese Situationen meine ich nicht. Ich meine die, in denen es kein Tunnelblick gibt, sondern das Weitwinkelobjektiv. Die Situationen, in denen es kein „Hoppla“, kein dummes Versehen ist. Sondern Situationen, in denen Menschen andere Menschen so beschämend behandeln, dass es für niemanden unerkannt bleiben kann – egal, wie stark die eigene Verletzung noch bluten mag.
Gibt es schlechte Menschen? Menschen, die nicht einfach nur in ihrem Kopf ein bisschen abgefuckt sind, sondern vor allem in ihrem Herz? Es macht mich so unendlich traurig, diese Frage mit einem „Ja“ beantworten zu müssen. Es gibt diese Menschen. Und der Schaden, den sie anrichten hat die Ausmaße einer Naturkatastrophe. Denn sie legen das wichtigste in Schutt und Asche, was wir haben – unser Urvertrauen.
Ich kann diesen Menschen nichts Schlechtes wünschen. Aber Einsicht. Einsicht ist das, was es wenigstens ein wenig besser macht. Wenn sie sich darüber bewusst werden, dass auch sie eine Gefühlsverantwortung haben. Und die ergibt sich nicht aus irgendwelchen Definitionen einer Beziehung zu anderen Menschen. Die ergibt sich aus dem grundlegenden Respekt und der Verantwortung, die wir unseren Mitmenschen gegenüber haben. Davon kann man sich nicht befreien, egal, wie oft man es sich auch einreden mag.
Und was bleibt nach einer solchen Naturkatastrophe? Erst einmal viel Staub. Und wenn dieser sich gelegt hat, zeigt sich erst das wahre Ausmaß des Schadens, der angerichtet wurde. Er zeigt sich Monate oder Jahre später – zu Zeiten, in denen der Verursacher auf seinem Ascheflug schon längst weitergezogen ist.
Wir tragen nicht nur für unsere eigenen Gefühle eine Verantwortung. Wir haben auch eine Verantwortung dafür, welche Gefühle wir anderen Menschen bereiten. Ich wünsche mir, dass die Abrissbirnen das irgendwann begreifen. Wenigstens in einem ganz kurzen Moment des Innhaltens. Und ich wünsche ihnen noch etwas: Heilung. Doch die wird sicherlich nicht dadurch eintreten, indem sie anderen Menschen einen noch größeren Herzschaden zufügen, als sie selbst erlitten haben.