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Autor deines Lebens

Kürzlich habe ich über die Vergangenheit nachgedacht. Über das, was jeder Tag, den wir bis jetzt in unserem Leben erlebt haben, aus uns gemacht hat. Welche Bedeutung diese Tage für unsere Gegenwart und unsere Zukunft haben. Welche Bedeutung sie für uns haben.

Stellen wir uns die Vergangenheit als ein Tagebuch vor. Jeder Tag, angefangen bei unserer Geburt, detailliert protokolliert – in Schönschrift. Einige dieser Tage sind mit einer Farbe geschrieben, so blass, dass wir sie kaum wahrnehmen können. Andere dagegen scheinen mit Edding und Textmarker aufgezeichnet zu sein. Manche Aufzeichnungen mögen, obwohl sie immer den selben Zeitumfang von 24 Stunden umfassen, kürzer ausfallen, andere länger.Wir können die Seiten immer mal wieder von Zeit zu Zeit durchblättern, über die ein oder andere Aufzeichnung herzlich lachen und über andere schier nicht enden wollende Tränen vergießen.

Was wir nicht können ist, Seiten herauszureißen oder einzelne Passagen zu streichen. Auch die einzelnen Abschnitte so umschreiben, dass sie uns besser gefallen, ist nicht erlaubt. Unsere Vergangenheit ist mit einer Tinte geschrieben, die für immer auf diesen Blättern verewigt sein wird. Das Buch unseres Lebens ist kein Ringbuch, aus dem wir ganz leicht und unbemerkt ein paar Seiten herausnehmen können. Es ist fest gebunden.

Heute ist der 10.608 Tag meines Lebens. Das bedeutet, 10.607 Tage liegen hinter mir. 10.607 beschriebene Seiten. Wie viele noch vor mir liegen, das entzieht sich, wie bei jedem anderen Menschen auch, meiner Kenntnis. Und auch die 10.608. Seite füllt sich langsam, aber sicher. Ob auf dieser Seite am Ende des Tages nur einige zähe Ausführungen zusammengeschrieben sind oder sich hier gar der ultimative Plot-Point verbirgt, dass kann ich im Moment nicht wissen.

Doch, was bedeutet dieses Meer an Papier überhaupt heute, jetzt, an Tag 10.608 für mein Leben? Für jetzt? Sind es schon so viele Seiten, dass sich die Geschichte fest und unumstößlich auf ein bereits feststehendes Ende zu bewegt? Haben die Charaktere, die auf den Seiten vorkommen, schon ihren festen Platz in der Geschichte eingenommen, ist ihre persönliche Entwicklung bereits abgeschlossen?

Oft fühlen wir, als müssten wir uns mit den Grenzen, welche die zurückliegenden Seiten unseres Lebens aufgestellt haben, einfach abfinden. Als müssten wir an der Stelle der Geschichte, an der wir uns gerade befinden, zurückblicken, und akzeptieren, wo sie uns hingebracht hat. Zu wem sie uns gemacht hat.

Natürlich hat jede einzelne der Seiten Einfluss auf uns genommen. Hat entscheidend dazu beitragen, dass wir jetzt gerade genau an dem Ort, an dem wir sind, so sind, wie wir sind. Ob wir damit zufrieden oder unzufrieden sind, weiß jeder von uns nur tief in seinem Inneren. Sind wir zufrieden und lassen sich die bisherigen Seiten lesen, wie ein spaßiger, seichter Unterhaltungsroman, können die weiteren Überlegungen zu dem Thema wohl abgebrochen werden. Sind wir zufrieden, obwohl die bisher niedergeschrieben Aufzeichnung eher einem Thriller ähneln und wir trotzdem in unserem Herz sicher sind, dass die Geschichte genauso passieren musste, ist das gut. Und, wenn die Geschichte bis hier hin einfach keinen Sinn macht? Wenn sie an ein Erstlingswerk eines eher unbeholfenen und nicht sonderlich talentierten Autors erinnert, bei dem Zusammenhänge nicht erkennbar sind, die Logik zu wünschen übrig lässt und es sogar ab und an mit der Rechtschreibung hapert?

Dann ist es Zeit, sich auf die zweite Hälfte des Buches zu konzentrieren. Auf die weißen Seiten, die da noch unberührt und jungfräulich liegen. Denn, egal, wie viele Seiten bereits mit Tragik, mit Katastrophen, mit bloßem Unsinn gefüllt sind – Geschichten nehmen allzu oft ein nich vorhersehbares Ende. Das zeichnet sie aus. Deshalb lieben wir Geschichten so sehr. Das besondere an diesem Buch, das da vor uns liegt ist, dass wir der Autor sind. Wir sind der Künstler, der sich nicht in den Grenzen der Realität bewegen muss – auch, wenn es unsere Realität ist.

Wir blättern von vorne nach hinten. Das ist die Richtung, die zählt. Das ist die Richtung, die wir noch nicht kennen. Alle anderen Seiten kennen wir schon, sie werden uns, so sehr wir es uns wünschen mögen, nichts neues erzählen. Die Buchstaben werden unverändert dort bleiben, wo sie sind. Die Seiten sind bereits veröffentlicht. Und an dem Punkt, an dem du gerade bist und diesen Text ließt, genau da haben sie dich hingebracht. Natürlich haben all diese Seiten uns zu der Person gemacht, die wir jetzt gerade sind. Mit unseren Fähigkeiten, unseren Verletzungen, unseren Träumen und unseren Erfahrungen.

Doch müssen wir uns hier unserer aktiven Rolle bewusst werden. Wir sitzen nicht passiv vor diesem Buch und müssen zuschauen, wie es sich weiter und weiter und weiter mit Worten, Sätzen und ganzen Seiten füllt, die uns nicht fesseln. Wir sind der Autor.

In den Händen eines Autors liegt all die Macht seiner eigenen Geschichte. Und waren die vergangen Seiten gefüllt von Tagen, die so schrecklich waren, dass wir die Erinnerung kaum ertragen können, dann sollten wir davon absehen, diese Seiten immer wieder aufzublättern und uns der Illusion hingeben, dass diese die ausschlaggebenden Seiten für den weiteren Ausgang der Geschichte sind.

Die ausschlaggebende Seite ist immer die, die wir gerade schreiben. Ist die Geschichte, die da auf den zurückliegenden Seiten erzählt wird, doch zu erdrückend, zu verfahren und zu sehr in unserem Kopf verankert, dass unsere Inspiration für eine komplette Drehung des Plots einfach nicht ausreicht – dann beenden wir die Geschichte an dieser Stelle und beginnen noch einmal von vorne. Eine ganz neue. Mit neuen Charakteren und neuen Settings, ein ganz neues Genre. Denn niemand hat gesagt, dass das Buch unseres Lebens ein zusammenhängender Roman sein muss.

Eine Anthologie ist auch vollkommen okay.

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