Ein Leben vor Gericht.
Goethe hat einmal gesagt, die Welt sei nicht, wie sie ist, sondern wie wir sind. Und der alte Mann hat wie immer Recht gehabt. Schlauer Kerl.
Wir urteilen. Ständig. Über alles und jeden. Über Menschen und über Situationen. Darüber, wie Menschen sind, was sie tun, was sie nicht tun. Wir haben unsere eigene Wahrheit gepachtet und schwenken erbarmungslos die Sense über alles, was uns irgendwie nicht in den Kram passt oder über das, was wir in unserem kleinen Erbsenhirn vielleicht schlichtweg nur nicht verstehen können. Und das schlimmste, das tun wir nicht nur über andere Menschen oder Dinge, sondern vor allem tun wir das bei uns selbst. Wir verurteilen uns auch selber für Dinge, die wir sagen, die wir machen oder sogar für Gedanken, die wir haben.
Warum tun wir das? Und viel wichtiger ist die Frage: Auf welcher Grundlage tun wir das überhaupt? Die offensichtliche Antwort ist hier wahrscheinlich, auf der Grundlage unserer eigenen Werte und Normen. Doch das sollten wir einmal hinterfragen. Denn, woher kommen diese Normen und Werte denn? Im Grunde aus einer Gesellschaft, die mit sich selbst überhaupt nicht klar kommt, die die laufende Veränderung über die letzten 100 Jahre irgendwie verpasst hat und eigentlich selbst einfach nur am Arsch ist.
Es ist so anstrengend, dieses Urteilen, dieses Kategorisieren und das in Schubladen packen. Wir müssen alles, was wir irgendwo mitbekommen, irgendwo in unser kleines Hirn einordnen, und die zwei Oberkategorien sind hier erst einmal “richtig” und “falsch”. Dabei sind die beiden Begriffe einfach nur zwei künstlich geschaffene Konstrukte, die es nur gibt, weil sich irgendwer irgendwann mal angemaßt hat, zu sagen, dass es richtig und falsch überhaupt gibt. Und wenn wir dann alles schön analysiert, verurteilt und in die Schublade gepackt haben, können wir uns ganz entspannt zurücklehnen und uns für unsere enorme Urteilskraft auf die Schulter klopfen.
Wenn uns einer unserer Mitmenschen etwas erzählt, etwas, das er erlebt hat oder Gedanken mit uns teilt, die ihn beschäftigen oder wenn er uns erzählt, wohin er in den Urlaub fährt – dann setzten wir uns erst einmal die weiße Richter Perücke auf – nicken freundlichen, sagen mhm, mhm – und dann geben wir unseren Senf dazu. Da wir ja die Weisheit selbst mit Löffeln gefressen haben, sowieso alles schon einmal genauso erlebt haben, und wissen, was eigentlich das Non-Plus-Ultra ist, was jetzt gemacht werden sollte, ist dieser Senf natürlich essentiell und kann unserem Gegenüber nur dienlich sein.
Nein. Vielleicht sollten wir einfach mal wirklich zuhören – mit richtigem Interesse – und weder mit der Intention, zu antworten, Ratschläge zu geben, oder um zu urteilen. Wir sollten uns dafür interessieren, wie andere Menschen das Leben erleben, und dann – dann gar nichts. Es interessant finden und uns dann wieder um unsere eigene Baustelle kümmern, ich denke, da gibt es nämlich noch genug Scheiß’ ,der in den Ecken rumfliegt.
Es ist ohnehin komplett irrelevant, wenn wir urteilen. Denn wir können einfach nicht das nachfühlen, was andere Menschen fühlen. Egal, wie viele ähnliche Situationen wir schon erlebt haben und ganz egal, wie detailliert und originalgetreu uns ein Mensch etwas erzählt – Worte – und ich liebe Worte, Sprache, und Kommunikation – sind dennoch niemals in der Lage, die Wahrheit in ihrem Kern zu erfassen. Worte sind, egal wie gut wir mit Worten sind, unzulänglich. Für die große Bandbreite an Erfahrungen und Gefühlen, die das Leben für uns bereithält. Daher können wir uns die Anstrengung direkt sparen.
Jeder Mensch ist mit seinem Denken und seinen gesammelten Erfahrungen, und vor allem damit, wie – auf welche Art – er Dinge erlebt hat, so individuell, dass Regeln, Kategorien, wahr und falsch, einfach nicht ausreichen. Denkt man einmal darüber nach ist es nicht möglich, für eine Gesellschaft mit all’ ihren Individuen feste Grundsätze, allgemeingültige Wahrheiten zu definieren, die dann wirklich alles und jeden abdecken.
Außerdem tut uns das doch gar nicht gut, das Urteilen. Vor allem nicht das Urteilen über uns selbst. Wir geben damit unsere eigenen Gefühle und Empfindungen auf, verleugnen unser Herz und unterwerfen uns einem künstlichen geschaffenen Konstrukt. Wir verurteilen uns selbst, für Dinge, die wir tun, nur weil irgendwer mal entschieden hat, dass das nicht gut ist, nicht richtig, nicht passend ist. Wir möchten etwas tun, wir denken etwas, und setzten uns dann erst einmal in die Ecke und schämen uns, weil wir so ein unzulänglicher Mensch sind, der einfach immer wieder „Fehler“ begeht, falsch denkt und falsch fühlt. Und damit geben wir etwas ab, was eines unserer wichtigsten Merkmale als Mensch ist: Unsere Authentizität. Wir gehen Wege, weil wir denken, dass wir die so gehen müssen. Mit 30 sollten wir so langsam verheiratet sein und Kinder kriegen – weil das jeder so macht. Wenn das zu dem eigenen, individuellen Leben nicht passt, wird das zwar irgendwie akzeptiert, es entspricht aber dennoch nicht der Norm – werden die meisten so sagen. Ohne das jemals zu hinterfragen. War ja schon immer so.
Das Leben ist so verrückt und wir können doch gar nichts davon verstehen. Wir können nur mitmachen und uns auf uns selbst verlassen. Und wir haben nur eine begrenzte Zeit hier auf Erden, jeder von uns. Warum halten wir uns an vermeidliche Wahrheiten, Vorgaben, Kategorien, Definitionen, wenn wir all’ das für unser eigenes Leben selbst bestimmen können? Warum sind wir so fixiert auf die Zustimmung von anderen, die genauso wenig Plan haben? Wenn es einen Weg zum Glück gibt – was ebenfalls nur ein künstlich konstruierter Begriff ist – dann liegt er in unseren ganz eigenen Wahrheiten und Gedanken. Und wenn wir irgendwann in unserem Leben einmal dagegen handeln, weil wir uns gerade danach fühlen – dann schreiben wir uns eben eine neue Wahrheit und neue Denkweisen. So frei sind wir, und wir nutzen diese Freiheit und diese Gabe, eigene Blickwinkel und eigene Ideale zu schaffen, viel zu wenig. Dabei macht uns das zu dem, was wir sind. Ganz für uns.
Das Urteil wurde gesprochen und ist hiermit rechtskräftig.