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Zwischen Zauberkraft und Zusammenbruch – Hochsensibilität

Es ist erstaunlich, wie viele nebensächliche Gedanken in einem auftauchen können, gerade wenn man durch irgendeine furchtbare Nachricht ganz erschüttert ist, die, wie man eigentlich meinen sollte, alle anderen Gefühle ersticken und alle nebensächlichen Gedanken verscheuchen müßte, besonders die kleinlichen aber gerade diese sind dann die zudringlichsten – Dostojewski

Circa jeder fünfte in Deutschland ist hochsensibel. Ich habe lange nichts von dem Begriff gewusst, allerdings von seiner Bedeutung viel zu viel. Dieser Beitrag soll keinen wissenschaftlichen Anspruch haben, sondern viel mehr, einen kleinen – nennen wir es Praxiseinblick – geben.

Ich fühle alles irgendwie zu viel. Immer zu viel, nie zu wenig.

Das kann eine unglaublich tolle Sache sein – bei freudigen Ereignissen. Und das kann eine unglaublich schlimme Sache sein – bei nicht so freudigen Ereignissen. Meine Gefühle haben Dimensionen, die anderen Menschen vielleicht ihr ganzes Leben verborgen bleiben. Und nein – dass heißt nicht, dass meine Gefühle eine “bessere” Qualität haben, als die von Leuten, die nicht hochsensibel sind. Sie sind schlichtweg anders.

Eine alltägliche Szene hat die Kraft, mit Tränen in die Augen zu treiben. Wenn ich über die Straße gehe, und sehe, wie das letzte Blatt von einem Baum fällt zum Beispiel. In diesem Moment nehme ich das Gesamtbild so unglaublich stark wahr, ziehe Gedankenlinien zu anderen Ereignissen, vergleiche mit der Endlichkeit, überlege, wie lang das Blatt wohl da am Baum hing, und welche Hoffnung es hatte, als es sich aus einer kleinen Knospe entwickelt hat. Hört sich ziemlich verrückt an. Ist es wahrscheinlich auch.

Meine Gedanken rennen den ganzen Tag Marathon. Viel zu oft bin ich viel zu erschöpft von meinen eigenen Gedanken. Sie haben ein Eigenleben, das ich mit meinem bloßen Verstand nicht zähmen kann. Ich bin ständig unter Strom, nie ganz da – und dass kann sehr, sehr anstrengend sein. An manchen Wochenenden schlafe ich fast nur. Weil mich mein eigenes Denken und mein eigenes Erfahren der Welt so furchtbar müde machen. Mein Kopf kennt einfach keine Pause.

Und ich bin abhängig. Von meiner Umwelt und den Menschen darin. Ich nehme Stimmungen wahr. Und diese fressen sich direkt in meine Gedanken. Auf der einen Seite bietet das eine wunderbare Ausgangslage für Empathie, anderseits ist auch dies in der Fülle sehr anstrengend und regt nur zu neuen Gedankenkarussels an. Runde, für Runde, für Runde. Die dann wieder von einem zum anderen führen.

Man kann vieles unbewusst wissen, indem man es nur fühlt aber nicht weiß. – Dostojewski

Bei hochsensiblen Menschen sind bestimmte Teile des Gehirns über-frequentiert. Da passiert zu viel. Es ist ein Segen, wie eine Superkraft, eine Gabe. Und doch stehe ich so oft am Rande der Erschöpfung, des Zusammenbruchs, weil mir meine Gefühle, meine Emotionen und meine Gedanken keine Pause gönnen möchten.

Wer nicht zuweilen zuviel empfindet, der empfindet immer zu wenig.
– Jean Paul

Doch vielleicht muss ich das einfach so annehmen, wie es nun einmal ist. Mich selber mit diesem Gefühlshaufen abfinden. Damit abfinden, dass rationales Denken bei mir immer nur an zweiter Stelle stehen wird. Das mein Bauch mein wichtigstes Gehirn ist.

Hochsensibilität ist keine Krankheit, keine Dysfunktion. Man kann es eher als eine gewisse Neigung beschreiben, die irgendwo in den Genen liegt.

Wo viel Gefühl ist, da ist auch viel Leid – Da Vinci

Ich weiß, dass ich die Welt anders wahrnehme, als die anderen. Dies wird immer das Gefühl mit sich bringen, sich nicht ganz verstanden zu fühlen. Und das ist überhaupt nicht negativ gemeint – es ist einfach zu anders, um es anderen bis in den kleinsten Kern nahebringen zu können. Anders wird man immer sein und auch das Gefühl, nicht rein zu passen, wird immer ein bisschen im Leben mitschwingen. Und trotzdem ist da irgendwo Dankbarkeit, das Leben so sehr fühlen zu können, mit all’ seinen Höhen und Tiefen.

Und welchen Mehrwert bieten diese Informationen nun für andere Menschen? Vielleicht ist es eine Anregung, sein eigenes Gefühlsleben einmal zu hinterfragen. Zu verstehen, dass Gefühle, die andere Menschen haben, immer eine Daseins Berechtigung haben, auch, wenn sie uns selbst noch so unverständlich scheinen. Denn Gefühle sind etwas, die kann man sich nicht ausdenken. Die fühlt man. Wir alle. Und wir alle auf unsere eigene Art.

Die Stärke der Gefühle kommt nicht so sehr vom Verdienst des Gegenstandes, der sie erregt, als von der Größe der Seele, die sie empfindet. – Jouffroy

5 Kommentare

  • Jeraph

    Hi!
    Ich habe mich während ich so deinen Text gelesen habe gefragt, ob du Entspannungsübungen schon mal ausprobiert hast? Also mir hilft das ziemlich, dieser Gedankenflut Herr zu werden 😋

      • Jeraph

        Guten Morgen,
        Ich werde, denke ich mal, gleich einen Beitrag zum Thema „Entspannungstechniken“ schreiben. Dann hast du, und andere einen ersten Einblick. Ich werde dort auch meine Erfahrungen zu den jeweiligen Möglichkeiten berichten 😉
        Liebe Grüße
        Jeraph

  • ferrueckte

    Es gibt nur sehr wenige Dinge, bei denen ich manchmal abschalten kann… Malen und Schreiben. Da passiert es mir dann, dass ich die Zeit vergesse und ganz versunken bin. Manchmal stundenlang…
    Es ist ein Segen und ein Fluch zugleich so vieles aufzunehmen und mitzubekommen… Ich habe auch immer mal meine „Schlaftage“ da schlafe ich dann 30 Stunden oder so um mich zu regenerieren…

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