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Verschwenden wir unser Leben?

Verschwenden wir unser Leben?

Das Hamsterrad dreht sich und wir laufen. Wir laufen immer weiter, mal schneller, mal langsamer. Mal strengen wir uns unheimlich an, mal sind wir nur halbherzig dabei. Doch Laufen tun wir immer, immer weiter, und weiter und weiter. Um irgendwann kurz inne zu halten und festzustellen, dass wir doch überhaupt nicht vom Fleck gekommen sind. Wir leben das selbe Jahr 50 Mal und nennen das unser Leben.

Unser Leben ist endlich. Unser Leben kann von der einen auf die andere Sekunde vorbei sein. Das ist uns nicht ständig klar, das ist uns nicht ständig präsent. Das ist eigentlich ein guter Schutzmechanismus, denn wäre uns die Fragilität und die Endlichkeit unseres Lebens stets präsent im Kopf, würden wir wahrscheinlich kurzfristig durchdrehen. Doch von Zeit zu Zeit sollten wir uns dem Thema stellen und uns fragen, was wir mit unserer kurzen Zeit auf der Erde eigentlich anstellen. Wie wir sie nutzen. Was wir aus ihr ziehen. Worum unser Leben sich dreht.

Wenn ich morgens in der Kaffeeküche stehe, um halb 8, nachdem ich mich elendig aus dem Bett gequält habe, locker 35 Minuten im Stau stand, und warte, bis endlich der dritte Kaffee des Tages durchgelaufen ist, schaue ich manchmal durch das Fenster. Es gibt einen Ausblick auf die fünf Etagen des grauen Betonblocks mit noch mehr Fenstern. In jedem der kleinen Fenster sehe ich kleine Menschen, die emsig auf ihre Tastaturen eintippen und auf ihren Bildschirm starren. Ich frage mich in diesen Momenten, ob diese Menschen glücklich sind. Ob sie das Leben leben, was sie sich wünschen. Wo sie gerade lieber wären. Oder ob sie sich darüber überhaupt schon einmal Gedanken gemacht haben.

Mein Leben könnte morgen vorbei sein. Einmal doof nicht aufgepasst und unter einen LKW geraten. Nur mal zum Beispiel. Dann ist das Spiel hier Game Over. Dann ist die Zeit abgelaufen, in der ich so viel mehr hätte tun können, als Tag für Tag in diesem grauen Klotz aus Beton Dinge zu tun, die für mich, mein Leben, meine Gedanken, meine Inspiration, meine Entwicklung genau den Mehrwert 0 haben. Und doch laufe ich weiter und weiter und weiter in meinem Hamsterrad. Wir tun jeden Tag das selbe und erwarten naiver Weise andere Ergebnisse.

Ein Großteil der Menschen verbringt die meiste Zeit des Lebens auf der Arbeit. Sie arbeiten und arbeiten, weil man das eben so tut. Sie bewegen sich in einem Radius von circa 25 Kilometern. Das ist ihr Leben. Es wird gearbeitet, auch, wenn schon längst bewusst geworden ist, dass sich hinter dem PC Bildschirm und den Akten nicht das große Glück versteckt. Wozu? Um sich Dinge leisten zu können, um einen Lebensstandard halten zu können, der als erstrebenswert angesehen wird. Um sich ein teures Sofa zu leisten, dann aber keine Zeit zu haben, darauf überhaupt sitzen zu können. Um den neuen Porsche zu kaufen, mit dem dann Stunden in der Rush Hour im Stau abgerissen werden. Für das Haus mit Garten, der nur in dem kleinen Zeitfenster zwischen Samstagnachmittag und Sonntagabend genutzt werden kann.

Ich glaube, dass sehr viele Menschen diesen Zustand einfach nicht hinterfragen. Sie laufen weiter und weiter, tun genau das, was von ihnen erwartet wird, das, was alle tun. Vielleicht schweifen diese Menschen kurz in Tagträume ab wie: Ich würde jetzt so gerne zum Flughafen fahren und einfach weg. Ach, das wär schön. Den Tagtraum unterbrechen sie dann damit, dass das ja sowieso nicht geht, weil dann müsste man ja auch die Wohnung und den Job kündigen, und das macht man ja nicht. Außerdem lebt man ja halt hier.

Wir sind keine Bäume. Wir haben keine Wurzeln, die uns da halten, wo wir sind. Wir müssen kein Leben leben, welches uns einfach die Luft zum Atmen nimmt.

Wir streben die großen Karrieren an, arbeiten, um uns materielle Dinge zu kaufen, die uns nach zwei Wochen auch nicht mehr glücklich machen. Wir haben das Gefühl, dass wir uns unserem Schicksal und dem Leben, wie es nun mal jetzt ist, fügen müssen. Dabei stimmt das nicht. Das ist ein Denkmuster, das wir angenommen haben, ohne zu hinterfragen. Denn, wenn wir Dinge nicht hinterfragen, dann gibt es hier auch kein Problem.

Wir sind die Meister im Aufschieben. Wir sind die Meister der Gedanken: Irgendwann. Und manchmal ist es für irgendwann zu spät. Und wir sind hier nicht im Probe-Abo. Das hier. Das jetzt. Das ist nicht die Generalprobe – das ist große Show.

Das alles soll nicht naiv klingen. Natürlich benötigt es Geld, um zu leben. Das Geld müssen wir verdienen. Es trifft aber auch zu, dass wir keine Million brauchen, um die Welt zu erkunden. Um dahin zu gehen, wo wir gerade sein möchten. Und auch will ich hier nicht den Eindruck erwecken, dass das ganze Leben ein Urlaub sein muss. Arbeiten ist okay, es liegt in der Natur des Menschen, sich etwas verdienen zu wollen. Aber wer sagt denn, dass uns die 3000,-€, die uns unser Bürojob bringt, nicht genauso glücklich machen, wie 200,-€, die wir bei der Arbeit an einem Obststand verdienen? Wenn wir uns frei von dem Standard machen, der uns irgendwann als erstrebenswert auferlegt wurde, ist so viel mehr möglich. Generell sollte nicht das Geld, das wir verdienen, als Maßstab für die Arbeit sein, die wir verrichten. Wir sitzen hier und sortieren Akten, damit andere Menschen noch viel mehr Geld verdienen. Dabei gibt es, wenn wir einmal über unseren Dunstkreis hinweg sehen, so viel auf der Welt, das unsere Tatkraft wirklich brauchen könnte. In so vielen Orten der Welt braucht es uns, Tiere leiden, Menschen leiden, die Ozeane vermüllen, der Regenwald wird abgeholzt. Und wir sortieren Akten uns schauen sonntags den Tatort. Wir sind unzufrieden, gestresst, in Hektik, machen uns Gedanken um unnötige Dinge und hupen aggressiv, wenn das Auto vor uns zu lange zum Einparken braucht.

Keiner von uns kann seinen Porsche, seine Couch oder sein neuestes Handy mit ins Grab nehmen. Doch was uns keiner, niemals nehmen kann, sind Erfahrungen. Erinnerungen. Wir werden reich dadurch, was wir erlebt haben, welche Menschen wir getroffen haben, dadurch, wie sehr wir unseren Horizont erweitern konnten. Wir müssen uns fremde Länder und Kulturen ansehen, das Spektrum an atemberaubender Natur, welches unsere Erde bietet. Wir müssen mit anderen Menschen sprechen – und nicht nur mit denen, die zufälligerweise in den 25 Kilometern unseren Lebensradius vorkommen. So viele Menschen geben sich mit 5 Prozent des Lebens zufrieden und werden die restlichen 95 Prozent niemals gesehen haben.

Und ja. Vielleicht sind auch wirklich einige Menschen damit zufrieden, zufrieden mit den 5 Prozent. Ich bin es nicht. Aktuell verbringe ich die letzten Jahre meiner “Jugend” (…mit fast 30 vielleicht sogar lächerlich noch davon zu reden) in einem grauen Betonklotz, mein Leben wird vordiktiert, es wird vorgegeben, wann ich aufstehen muss, wann ich in Urlaub fahren darf, wann ich nach Hause gehen kann. Doch ich bin es selber, die sich so unfrei macht. Denn wie jeder andere könnte auch ich einfach morgen losgehen und unter diese Art von Leben einen Schlussstrich ziehen. Aufhören zu laufen und erst mit dem linken, dann mit dem rechten Fuß aus dem Hamsterrad treten. Einen letzten Blick darauf werfen und mich umdrehen und gehen. Mich von der Comfort-Zone des geregelten und vorgegebenen Lebens, mit all seinen Annehmlichkeiten, schicken Handtaschen, Fernsehern und Couches verabschieden, und zu noch Unbekanntem aufbrechen. Und ich bekomme immer mehr das Gefühl, dass ich das irgendwann schaffe. Damit, wenn der LKW irgendwann kommt, ich sagen kann, dass ich dieses Leben zu 100 Prozent gelebt habe. Und nicht nur zu 5.

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