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Kollision der Welten

Eine Frage der Perspektive.

Ich sitze auf dem Balkon. Von hier aus kann ich in die Fenster des Mehrfamilienhauses gegenüber schauen, auf militärisch anmutenden Sichtschutz haben die meisten verzichtet. Hier ist es beschaulich, hier hat man nichts zu verbergen. In der warmen Jahreszeit verbringe ich viel Zeit draußen auf meinem Balkon und auch ohne eine allzu ausgeprägte voyeuristische Ader bleibt es nicht aus, dass man einen Einblick in die Welt der Nachbarn bekommt.

Da ist die ältere Dame mit dem kleinen Dackel. Am Abend spielen die beiden zusammen auf dem Wohnzimmerboden. Oft grillt sie gemeinsam mit der noch älteren Dame, die über ihr wohnt, das ist nett anzusehen. Das Pärchen ganz oben ist immer spät zu Abend und putzt sich zusammen vor dem Badezimmerspiegel die Zähne. Das Mädchen unten links verbringt die Vormittage meistens vor dem PC mit Skypen. Das ältere Pärchen ganz unten mit dem Garten schaltet abends oft 80er Jahre Rockmusik ein, manchmal tanzen sie dazu. Oft steht die Frau in einer Decke eingewickelt an der Terassentür und raucht.

Das sind Einblicke in die Welt anderer Menschen. Einblicke, die sie ganz unbewusst erlauben. Sie sind sich wahrscheinlich genauso selten bewusst, dass man durch die großen Glasfenster, besonders, wenn im Dunkeln Licht angeschaltet ist, dass sie diese erlauben. Die Einblicke in ihren Alltag, in ihre Gewohnheiten, in ihr Leben – zu begreifen, dass all’ diese Menschen, ob in dem Haus meiner Wohnung gegenüber oder irgendwo sonst auf der Welt, ihre eigene kleine haben. So viele Welten.

Wir erleben unser Leben als Subjekt, egozentrisch. Durch die Brille, die oben an ihrem Gestell einen riesigen, blinkenden Leuchtreklamepfeil trägt, der auf uns selbst zeigt. Wir kennen nur unsere Welt, und vergessen nur zu oft, dass andere Menschen in einer ganz anderen eigenen Welt leben. Stehen wir im Supermarkt an der Kasse und vor uns stehen noch sechs weitere Menschen an der Kasse – jeder von ihnen hat seine eigene Geschichte, seine Erfahrungen, seine Kindheit, seine Familie, seine Freunde. In ihrem Herzen tragen sie Leid, Erinnerungen, Liebe, Hoffnung und Träume. Und wir? Wir sind für diese Menschen auch nur irgendein Statist, der hinter ihnen im Aldi in der Schlange steht. Unsere Welt ist ihnen genauso fremd, wie ihre für uns.

Den ganzen Tag sind wir mit Gedanken beschäftigt, die sich um unser Leben drehen. Unser Leben, mit den Menschen darin, mit unserem Alltag, unserem Besitz, unseren Ängsten und unseren Plänen. Wie vielen Menschen begegnen wir an einem einzigen Tag auf der Straße, an der U-Bahn Station, auf der Arbeit, die für uns auch nicht mehr sind, als lediglich Statisten in unserem Leben. Bewusst, dass diese Menschen die Welt mit ihren ganz eigenen Augen sehen und sie sich genauso in ihrem sozialen Netzwerk, dessen Mittelpunkt sie selbst sind, bewegen, ist es uns nie.

Wir denken, die Welt ist so, wie wir sie sehen. Dabei können wir damit nur falsch liegen. Natürlich, unsere Welt, mag so sein. Aber einen Zustand der Welt, der objektiv für alle Menschen gilt, den gibt es nicht. Das Leben hat so viele Facetten, Variationen, Spielräume – es gibt wohl unendliche Kombinationsmöglichkeiten, wie ein Leben laufen kann. Und keins gleicht dem anderen. Selbst die Welt der Menschen, die uns nahe stehen, die wir besser zu kennen denken, als uns selbst – die Welt aus ihren Augen sehen, dass können wir nie. Denn selbst diejenigen, die über ein Übermaß an Empathie verfügen, können bei dem Hineinversetzen in andere Menschen nur die Dinge als Werkzeuge nutzen, die ihnen ihr eigenes Leben in die Hand gegeben hat. Und hier ist es nur wahrscheinlich, dass dies nicht die gleichen sind, wie die, die unser Gegenüber kennt.

Eine Kollision von Welten, jeden Tag, zehntausende. So viele Statisten, so viele Gesichter, so viele Menschen in unserem Leben, die ihre eigene Welt Tag für Tag mutig um sich herum tragen. Die sich die Frage stellen, was ihr Sinn in diesem Leben ist, für welche Träume sie kämpfen, wo ihr Glück liegt – unbewusst darüber, dass sich der Mensch neben ihnen im Stau vielleicht gerade die gleichen Fragen stellt. Welten kollidieren jeden Tag und wir bemerken es kaum, weil unsere eigenen Welt uns, wie eine dicke Dämmschicht aus Watte, einhüllt.

Es ist wichtig, sich dies in gesunden Abständen immer wieder einmal bewusst zu machen. Mit neugierigen Augen den Statisten mehr als nur einen flüchtigen Blick zu widmen, sich zu fragen, mit wem sie wohl zusammen Abendessen und wann sie das letzte Mal aus vollem Herzen Lachen mussten. Denn, auch, wenn wir alle in unserer eigenen kleinen Welt zuhause sind, in der sich alle Planeten nur um uns selbst drehen, so können wir zwischen den Welten kleine Brücken bauen und diese ab und an einmal mutig betreten. Das hilft dabei, sich selbst nicht so ungeheuer wichtig zu nehmen. Das eigene Leben, die eigenen Ansichten, die eigenen Urteile nicht als das absolute Non-Plus-Ultra anzusehen. Denn, das denken wir alle von uns. Vielleicht ist es das, was all’ unsere Welten am Ende doch wieder vereint.

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